Positionspapier der Friedrich-Ebert-Stiftung:
Handlungsbedarfe zur Reform der psychosozialen Versorgung 44 Jahre nach der Psychiatrie-Enquete
Mehr als vier Jahrzehnte nach der Psychiatrie-Enquete stellt sich erneut die Frage, ob die psychosoziale Versorgung auf der Höhe der Zeit ist und im Dienst psychisch erkrankter Menschen sowie ihrer Angehörigen steht. Diese Fragestellung hat der Gesprächskreis Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) im Herbst 2017 zum Anlass genommen, eine Expertengruppe zur Reform der psychosozialen Versorgung zu initiieren. Ziel ist es, mit diesen umsetzungsorientierten Vorschlägen einen Beitrag zur politischen Debatte um die psychosoziale Versorgung zu leisten.
In der Zwischenzeit haben sich politische, gesellschaftliche und rechtliche Entwicklungen ergeben, die eine kritische Überprüfung des Status quo der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen erfordern (vgl. UN-Behindertenrechtskonvention, stärkere Betonung von Autonomie und Partizipation). Außerdem sind in den letzten Jahrzehnten teils strukturelle und funktionale Fehlentwicklungen erfolgt. Insbesondere ist zu konstatieren: Die Angebotslandschaft ist inzwischen überaus komplex, zersplittert, verschiedenen Rechtskreisen und Kostenträgern zugeordnet und kaum noch im Sinne einer integrierten, personenzentrierten Versorgung handhabbar.
Aktuelle Problemfelder und Handlungsbedarfe:
- Mangelnde Verfügbarkeit intensiv-ambulanter Versorgungsangebote
- Fragmentierte Angebotsstruktur und Koordinationsdefizite
- Unzureichende Inklusion in den Bereichen Wohnen und Arbeiten
- Präventions- und Versorgungsdefizite spezieller Bevölkerungsgruppen
- Unzureichende Verankerung von Autonomieförderung und Partizipation
- Fehlen angemessener verbindlicher Personalvorgaben
Aus Sicht der BAPP sind insbesondere folgende Aussagen alarmierend:
„Infolge der Psychiatrie-Enquete von 1975 wurden die psychiatrischen Fachkrankenhäuser deutlich verkleinert und umstrukturiert, psychiatrische Abteilungen wurden zunehmend an Allgemeinkrankenhäuser angegliedert. […] Zugleich wurden ambulante und sogenannte „komplementäre“ Versorgungsangebote ausgebaut.
In den vergangenen 15 Jahren kam diese Bewegung allerdings ins Stocken und kehrte sich in Teilen sogar um. […]
Ein wesentlicher Grund für diese unerwünschte Entwicklung besteht darin, dass es bislang nicht gelungen ist, flächendeckend und in ausreichendem Umfang ambulante Versorgungsangebote für psychisch schwer kranke Menschen zur Verfügung zu stellen. Zwischen der Behandlungsintensität stationärer und teilstationärer Versorgung einerseits und ambulanter Versorgung andererseits besteht eine große Lücke (SVR 2018: 745). Psychisch schwer erkrankte Menschen mit dem Bedarf einer zeitintensiven und komplexen Behandlung sind nach wie vor weitgehend auf institutionelle, stationäre Settings angewiesen (Steinhart/Wienberg 2017: 26).“